The Living Tree – Jon Anderson & Rick Wakeman
Bäume symbolisieren seit jeher das Leben. Seit frühester Kindheit waren sie auch ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens.
Vielleicht sollte man sich einmal mehr Zeit nehmen um sie intensiv zu betrachten, an ihnen zu riechen, sie mit den Händen
zu betasten, sie erklimmen aber auch sie vor Zerstörung schützen. So ist es auch mit diesem Album, welches sparsam instrumentiert
recht simpel wirkt, aber erschlossen werden will.
Kehren wir zunächst in das Jahr 1977 zurück und schlagen das LP-Cover von „Going for the One“ auf. Ein Baum inmitten eines
Sees der Schweizer Alpen … , Ricks Rückkehr … , Jon wendet sich in seinen Texten wieder mehr der Natur und dem Leben zu …
Das sind die ersten Parallelen die zwischen beiden Alben verlaufen. Alles Zufall? – YES … MAYBE … NO
Das muss jeder für sich selbst beantworten.
Im Gegensatz zu GFTO bietet Jon und Ricks Lebensbaum nicht diese Wall of Sound, kein opulentes Album voller Noten,
von Gegensätzen. Es wird mit Sicherheit nicht dessen Erfolg haben. Aber das spielt keine Rolle, denn Verkäuflichkeit
ist noch kein Zeichen für Qualität.
Wenn man Rick glauben darf, entstand das Album während der letzten vier Jahre und die „Noten“ wurden durchs Netz geschickt,
um die große Entfernung der beiden Freunde, die so unterschiedlich sind, zu überbrücken.
Acht Songs sind entstanden, das Titelstück kann man in zwei Teilen hören.
Tracks:
1. Living Tree (Part 1) (4:04)
2. Morning Star (4:30)
3. House Of Freedom (5:38)
4. Living Tree (Part 2) (4:37)
5. Anyway And Always (3:51)
6. 23/24/11 (6:25)
7. Forever (5:33)
8. Garden (3:23)
9. Just One Man (4:46)
Alle Stücke, außer „Just one Man“ wurden von Rick Wakeman geschrieben, Jon hat ihnen seine Gesangsmelodie zugefügt
und alle Texte geschrieben. Eine Arbeitsweise, die man aus Jons Zusammenarbeit mit Vangelis oder Kitaro kennt.
Rick hat die Stücke am Klavier komponiert und verzichtet auf ausladende Tastenläufe, die man zu Yes-Konzerten erwartet.
Zusätzlich werden die Melodien mit Streicher-Sounds verfeinert, was hier und da auf Kritik stoßen wird, aber dem Ziel,
welches das Duo mit den Tracks verfolgt, angemessen ist.
Wie auf Jons im gleichen Atemzug erschienenem Solo-Album „Survival and other Stories“ kehrt Jon seinen pathetischen Texten
ein wenig den Rücken und seine Lyrics werden im wahrsten Sinne des Wortes erdiger.
Wenn ich an die lustigen Dialoge während des Konzertes in St Albans denke, sehe ich vor mir immer folgendes Bild:
Jon und Rick im Garten, die unbeholfen einen Baum pflanzen, wie zwei unbefangene Kinder die nach einer langen Reise
in heimischen Gefilden eine neue Herausforderung suchen. Übrigens könnten die zwei Eleven des Gartenbaus beim ehemaligen
Bandkollegen Bruford anklopfen, der inzwischen im Ruhestand einige Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt haben dürfte.
Das macht Hoffnung auf ein ABWR-Projekt, welches, abgesehen von Bruford, wieder wahrscheinlicher wird.
Aber wir werden sehen.
Erfahrungen in der musikalischen Landschaftsgestaltung haben Jon und Rick allemal. Mit diesem Album bieten sie ihren Fans
homogene Songs ohne Überraschungen, sentimental voller Lebensweisheiten mit einer wiedererwachten Stimme von Jon.
„Living Tree“ (der Song) handelt von Jons „Wiedergeburt“ aber nicht im pathetischen Sinne. „Morning Star“ beginnt mit
versteckten Blues-Patterns, die aber von den „Streichern“ aufgelöst werden, textlich eine Aufbruch-Stimmung vermittelnd
und mahnend bricht der Song abrupt ab. „House of Freedom“ bietet einen nachdenkliche Piano-Ballade die vom zweiten Teil
des Lebensbaums ab- und aufgelöst wird. Dem folgen das an Ballett-Musik erinnernde „Anyway and always“ und dem Höhepunkt
der Scheibe, dem Song „23/24/11“. Anti-Kriegslieder waren jeher Bestandteil von Jons Verkündungen. Dabei hat er sich
in seinen Texten auf die Menschen selbst konzentriert. Nicht nur die Opfer werden bedauert, die Sinnlosigkeit der Kriege
wird besungen, nein auch die deformierten Seelen der Soldaten und deren Angehörigen werden thematisiert.
Jon wäre nicht Jon, wenn er aber nicht auch Hoffnung sehen würde …
Ein Liebeslied für Jane darf natürlich auch nicht fehlen, seine Angetraute wird sich über den Song „Forever“ besonders freuen
und ihn vielleicht hören während sie Jon bei seinen Versuchen im „Garden“ betrachtet. Den Abschluss bildet die einzige Fremdkomposition.
Diese stammt von Jeremy Cubert. Der Song „Just one Man“ beschreibt den Einfluss einzelner Persönlichkeiten auf die ganze Menschheit.
Rick bietet hier eine abgewandelte Piano-Version des Songs , der ja auch auf Jons aktuellem Solo-Album zu finden ist.
Das wundervolle Cover von Mark Wilkinson bildet einen würdigen Abschluss als Gesamtkunstwerk. Wilkinson ist ja u.a. auch für
die berühmten Marillion-Cover verantwortlich. Seine Arbeit hat er in diesem Fall aber stark an die herausragende Hipgnosis
Covergestaltung für Genesis‘ „Wind and Wuthering“ angelehnt.
Fazit: Ein Album, welches ich in meiner Sammlung nicht missen will und mich immer an ein wundervolles Konzert
und ein schönes Wochenende mit einem Freund in London erinnert.
Danke Rick & Jon