The Gates Of Delirium - Versuch einer Interpretation

veröffentlicht: 28.11.1974

Jon Anderson ; Chris Squire ; Steve Howe ; Alan White ; Patrick Moraz
Antworten
Benutzeravatar

Topic author
Aprilfrost
Keymaster
Beiträge: 9265
Registriert: Mo 7. Apr 2008, 16:20
Has thanked: 164 times
Been thanked: 112 times

The Gates Of Delirium - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilfrost »

TGOD geht auf den berühmten Roman „Krieg und Frieden“ von Leo N. Tolstoj zurück. Ursprünglich wollte er das Werk „Krieg und Gesellschaft“ nennen. Tolstoj beschreibt reale Schlachten, aber auch Teegesellschaften, Tanzbälle, Jagden, Konferenzen und Volksaufläufe. Daneben befasst er sich mit gesellschaftlichen Gegensätzen wie Adel und Geldadel oder eheliche und uneheliche Geburt. Der adlige Pierre, eine der Hauptfiguren, schließt am Ende des Buches Freundschaft mit einem einfachen jungen Bauern, der ihm dazu verhilft, Frieden mit sich selbst und dem Leben zu schließen. (Ich erwähne diesen Handlungsstrang, weil er mir für den Schluss von TGOD sinnstiftend scheint.)

Wie man schon an der Überschrift sieht, habe ich die Übersetzung von JJG heftigst überarbeitet, damit sie meiner Interpretation als Grundlage dienen kann.(Mit Delirium = Verzückung bin ich absolut nicht einverstanden.) Aber Übersetzungen von Lyrik sind ja immer Übertragungen und lassen Raum für Variationen. Es macht wenig Sinn, Zeile für Zeile zu betrachten. Das Ganze steht zu sehr in einem Zusammenhang mit sich selbst. Hier nun meine Gedanken:

Bild
Pablo Picasso - Guernica
[Zu diesem Bild eine kurze Geschichte: Im Museum of Modern Art in New York, wo das Bild ausgestellt war, fragte ein General den anwesenden Picasso: "Haben Sie das gemacht?" "Nein", antwortet Picasso, "Sie!"]

Stand and fight we do consider
Reminded of an inner pact between us
That's seen as we go
And ride there
In motion
To fields in debts of honor
Defending

Wir erwägen zu kämpfen und zusammen zu stehen
An einen inneren Pakt zwischen uns erinnert
Der sichtbar wird, während wir gehen
Und uns auf die Felder zubewegen,
die wir, weil es die Ehre gebietet , verteidigen


// Das „Wir“ und erst recht der "innere Pakt" setzt ein „die Anderen“ voraus. Hier wird an die Verbundenheit von Menschen gleicher Ziele appelliert. Was das für Ziele sind, kann man noch nicht sagen. Der Grund für den Aufruf zum Kampf ist jedoch einigermaßen klar: es gilt etwas zu verteidigen. „Die Anderen“ sind demnach erst einmal Feinde. Wir wissen auch noch nicht, wer die Guten, wer die Bösen sind. Feinde sind aus ihrer eigenen Perspektive sicher nicht die Bösen.

Bild
Statt Lenin könnte hier auch ein anderer stehen. Du? Oder ich?

Stand the marchers soaring talons,
Peaceful lives will not deliver freedom,
Fighting we know,
Destroy oppression
The point to reaction
As leaders look to you
Attacking

Widersteht den herumwirbelnden Krallen der Marschierenden!
Ein friedvolles Leben wird keine Freiheit bringen
Wir wissen, dass der Kampf die Unterdrückung zerschlägt
[Dies ist] Das Argument für den Rückschlag
Wenn die Führer auf Euch schauen, wie Ihr angreift

Bild

// Es kommen die Führer ins Spiel – oder sind es die Anführer? Erstere halten sich aus dem Getümmel in der Regel heraus, letztere gehen mutig voran. (Oder sind es gar die Verführer?)
Aus diesem Vers geht hervor, dass es nicht um Eroberung oder Verteidigung geht, sondern um das Einfordern von Grundrechten. Frieden und Freiheit werden als Einheit gesehen. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Ich habe nie in der DDR gelebt, aber ich kann mir vorstellen, dass dort das Leben nicht weniger friedlich war als im Westen. Trotzdem haben die Menschen unter der eingeschränkten Freiheit gelitten. Und letzten Endes haben sie diese Unterdrückung abgeworfen.

Bild

Choose and renounce throwing chains to the floor.
Kill or be killing faster sins correct the flow.
Casting giant shadows off vast penetrating force
To alter via the war that seen
As friction spans the spirits wrath ascending to redeem.

Wählt, sagt euch los, werft die Ketten zu Boden
Tötet oder ihr werde schneller getötet; Sünden korrigieren den Verlauf
Diese gewaltig eindringenden Kraft wirft gigantische Schatten
um durch den dargestellten Krieg etwas zu verändern
Während die Spannung den Zorn der Geister erregt,
der aufsteigt um zu erlösen
Bild

// Das Märchen vom “gerechten Krieg” lässt sich nicht aufrecht erhalten. Es geht ums nackte Überleben. Dieser Vers ist voller Gewalt: „Töten“, „Sünden“, „Zorn“, „gewaltig eindringende Kraft“. Fressen oder gefressen werden. Die „Leaders“ heizen die „Fighter“ an.
Bild
Wars that shout in screams of anguish,
Power spent passion bespoils our soul receiver,
Surely we know.
In glory
We rise to offer,
Create our freedom,
A word we utter,
A word.

Die Kriege, die in schreienden Qualen rufen
Dass Leidenschaft, die von der Macht verliehen wurde, unseren Seelenempfänger beschmutzt, wissen wir natürlich.
Ruhmreich erheben wir uns
Um unseren Frieden anzubieten und zu gestalten
Ein Wort nur äußern wir, ein Wort…


// Das Gewissen (der "Seelenempfänger") wird nieder geknüppelt. Wir haben verstanden, dass auch unsere Gewalt andere Menschen beschädigt; trotzdem ist das Gefühl von Macht und Ruhm berauschend. Wir sind sogar großherzig und bieten den Frieden an – aber zu unseren Bedingungen. Ich fühle mich an „11th Earl of Mar“ von Genesis erinnert.
(Zur letzten Zeile fällt mir nichts ein.)


Bild

Words cause our banner, victorious our day.
Will silence be promised as violence display?
The curse increased we fight the pow'r
And live by it by day.
Our gods awake in thunderous roars,
And guide the leaders hand in paths of glory to the cause.

Worte begründen unsere Banner, siegreich ist unser Tag
Wird die Ruhe versprochen, während Gewalt zur Schau gestellt wird?
weil der Fluch stärker wird, bekämpfen die Macht,
und leben [doch] von ihr Tag für Tag
Unsere Götter erwachen in donnerndem Gebrüll
Und führen die Hände unserer Führer auf den Wegen des Ruhms zur Ursache


// Aus diesen Worten spricht die Überzeugung, dass wir auf der richtigen Seite kämpfen und das Recht auf unserer Seite haben. Im Grunde machen wir nichts anderes als die Gegenseite, haben aber vermeintlich das Recht und die Pflicht dazu.
Im Ersten Weltkrieg hatten die Soldaten auf ihrer Koppel die Wörter stehen: „Gott mit uns“.

Bild


Listen, should we fight forever
Knowing as we do know fear destroys?
Listen, should we leave our children?
Listen, our lives stare in silence;
Help us now.

Hört mal, sollten wir für immer kämpfen
Wissend (denn das wissen wir doch), dass Angst zerstört?
Hört, sollten wir unsere Kinder verlassen
Hört, unser Leben verharrt in Stille
Helft uns jetzt


// Ist dies der Augenblick der Nachdenklichkeit? Kann das alles so weiter gehen? Wo soll das enden? Nichts mehr von Ruhm und Macht, statt dessen Angst und Stillstand.
Aber an wen richtet sich die Bitte „Helft uns“?


Bild

Listen, your friends have been broken,
They tell us of your poison; now we know.
Kill them, give them as they give us.
Slay them, burn their children's laughter
On to hell.

Hört, Eure Freunde wurden gebrochen
Sie erzählen uns von Eurem Gift, jetzt wissen wir es.
Tötet sie, gebt‘s Ihnen, wie sie‘s uns geben
Erschlagt sie, verbrennt das Lachen ihrer Kinder im Höllenfeuer.


Gefangenschaft, Folter, Aufhetzten gegeneinander. Es hört sich an wie ein alttestamentlicher Rachepsalm.

Bild

The fist will run, grasp metal to gun.
The spirit sings in crashing tones,
We gain the battle drum.
Our cries will shrill, the air will moan and crash into the dawn.
The pen won't stay the demon's wings,
The hour approaches pounding out the Devil's sermon.

Die Faust wird fliegen, formt Metall zu Waffen
Der Geist singt in zerstörenden Tönen,
wir gewinnen das Kriegsgetrommel
Unsere Schreie werden gellen, die Luft wird ächzen und ins Morgengrauen hinein krachen
Der Schreiber kann die teuflischen Flügel nicht aufhalten
Die Stunde naht, des Teufels Predigt auszuhämmern


Ein letztes Aufbäumen. “Wollt Ihr den totalen Krieg?” [Mir läuft beim Schreiben ein Schauer über den Rücken.] Mit dem Schreiber könnte der Geschichtsschreiber gemeint sein.

Bild

Soon, oh soon the light,
Pass within and soothe this endless night
And wait here for you,
Our reason to be here.
Soon, oh soon the time,
All we move to gain will reach and calm;
Our heart is open,
Our reason to be here.
Long ago, set into rhyme.
Soon, oh soon the light,
Ours to shape for all time,
Ours the right;
The sun will lead us,
Our reason to be here.


Bild

Bald, ach bald wird das Licht
Diese endlose Nacht erreichen und lindern
Und hier auf Dich warten
Nur deshalb sind wir hier

Bald, ach bald wird uns die Zeit
alles, was wir erreichen wollen, darreichen und uns besänftigen
Unsere Herzen sind offen
nur deshalb sind wir hier

Vor langer Zeit wurde es in Verse gefasst

Bald, ach bald wird das Licht
Uns formen für alle Zeit, uns wird das Recht gehören
Die Sonne wird uns führen
Nur deshalb sind wir hier


// Vielleicht der schönste Text, der in der Rockgeschichte je geschrieben wurde. Voller Hoffnung, voller Sehnsucht, voller Müdigkeit durch den Krieg, aber nicht resigniert.
Mehr muss dazu nicht gesagt werden. Der Text und die Musik sprechen für sich.

Fragile
Alumni-Admin
Beiträge: 7661
Registriert: Sa 23. Sep 2006, 16:20
Been thanked: 1 time

Re: The Gates Of Delirium - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Fragile »

Da haste dir ja mal wieder ordentlich was vorgenommen. Respekt!!! [smilie=clap.gif]
Auf jeden Fall hat der Song zumindest für mich eine eindeutigere Botschaft als vorher CTTE.

Jetzt bin ich ja schon mal auf A-Frost's Interpretationen von "Tales" gespannt, sofern er denn im heimischen Bücherregal die "Autobiography Of A Yogi" stehen hat. ;)
He's seen too much of life,
and there's no going back...
Benutzeravatar

Topic author
Aprilfrost
Keymaster
Beiträge: 9265
Registriert: Mo 7. Apr 2008, 16:20
Has thanked: 164 times
Been thanked: 112 times

Re: The Gates Of Delirium - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilfrost »

Die Autoyogigraphie kenne ich nicht. Trotzdem werde ich mich sicher irgendwann an den Texten versuchen. Vielleicht erledigt das ja auch jemand anderes vor mir.
Jedenfalls gibt es eine Menge Texte von Yes, die mich reizen.
Antworten

Zurück zu „Relayer“