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A Passion Play
Sieben Jahre Babyblaue Seiten
Jethro Tull - A Passion Play
von:
Guy Manning vom englischen Original-Text
Historisches:
Ganz 1972 waren Jethro Tull auf der Tour zum Album "Thick as a brick", einer großangelegten Komposition über zwei LP-Seiten. Sie hatten damit eine neue Ebene des Publikumszuspruchs bei ihren Konzerten erreicht und waren auf dem Weg nach ganz oben in der Liste der weltweit besten und bekanntesten Rockbands. "Thick as a brick" war das erste "Jethro Tull"-Album, das es an die Spitze der US-Billboard-Charts schaffte. Ihre nächste LP war also ungemein wichtig für ihren fortgesetzten Erfolg und ihre Entwicklung als eines der hellsten Lichter der neuen Musik.
Die Band entschied sich dafür, ihr nächstes Album im französischen Chateau d'Herouville aufzunehmen (das Elton John mit seinem "Honky Chateau" bekannt gemacht hatte) - wohl aus steuerlichen Gründen: Ihr Erfolg ließ sie zu Opfern der strengen britischen Steuerregelungen werden; Tull wurden also zu Steuerflüchtlingen. Also begannen Tull weit weg von zuhause und den Ursprüngen des ur-englischen satirischen Humors, der "Thick as a Brick" so geprägt hatte, ihre Ideen für das Nachfolgealbum aufzunehmen, genug Material für drei Seiten eines Doppel-Albums.
Das Studio und die Umgebung entpuppten sich allerdings als kaum ideal für diesen kreativen Prozess, und der - heißt es - Kampf mit Krankheit und technischen Problemen ließ die Band mit unfertigen Ideen zurück, als sie schließlich den festen Entschluss fasste, das Unterfangen aufzugeben und nach Hause zu fahren. Der Großteil der Überbleibsel dieser nicht komplett abgeschlossenen Aufnahmen wurden schließlich erst viel später auf dem Album "Nightcap" unter dem Namen "Chateau d'isaster"-Sessions veröffentlicht. Zwei weitere Stücke, "Solitaire" und "Skating Away On The Thin Ice Of A New Day", erschienen 1974 auf "Warchild".
Wieder zuhause und kurz vor einer großen Tour machte sich Ian Anderson daran, das vorhandene Material wieder auseinander zu nehmen und neu zusammenzusetzen, woraus schließlich "A Passion Play" entstand.
Zur gleichen Zeit, während all dies passierte, spielte in Yorkshire, England eine kleine Band Cover-Versionen von Free-, Pink Fairies- und Groundhog-Stücken. Ihr untauglicher Leadsänger saß obendrein zuhause und schrammelte Wishbone Ash-, Alice Cooper- und Lindisfarne-Nummern auf seiner kaputten 12-saitigen EKO Gitarre.
Aber der Schlagzeuger der Band hatte es sich zum Ziel gesetzt, diesen armen Kerl mit Jethro Tull bekannt zu machen... Und nach einiger Zeit packt ihn die Musik... und war ein treuer Begleiter für inzwischen mehr als dreißig Jahre.
Die Besetzung:
Das Quintett dieser Aufnahmen war die erste wirklich stabile Jethro-Tull-Besetzung (und blieb bis 1975 zusammen).
• Ian Anderson - flute, acoustic guitar, saxophones, vocals
• Barriemore Barlow - percussion
• Martin Barre - electric guitar
• John Evan - piano, organ, synthesizers, speech
• Jeffrey Hammond - bass guitar, vocals
Guys Erinnerungen an die Zeit, das Konzert und das Album:
Wir waren erst 16, und Musik rief uns zu sich. Jethro Tull kündigten an, dass die Weltpremiere von "A passion play" ein Konzert in Großbritannien am 13. April sein würde. Sofort kratzten wir das Geld für den Eintrittspreis von einem Pfund (könnt Ihr Euch noch an diese Zeiten erinnern!?) zusammen, bestellten die Tickets... warteten... warteten... warteten und schließlich... waren sie da! Jetzt mussten wir nur noch unseren Eltern beibringen, dass wir alleine nach London fahren, dort übernachten und das Konzert in der Wembley-Arena anschauen wollten. Aber die Musik rief uns zu sich, und wir konnten unsere zweifelnden Eltern überzeugen, dass wir verantwortungsbewusst genug dafür seien, um von der Leine und in die Stadt gelassen zu werden!
Pläne wurden geschmiedet! Doch dann die Katastrophe! Die Tour wurde abgesagt, da das aufwändige Bühnenbild nicht schnell genug von den USA nach Europa geschafft werden konnte, und auf später verschoben. Schließlich wurden ein Termin im Juni 1973 sowie ein zusätzlicher bekannt gegeben, sofort bestellten wir Tickets... warteten... warteten... warteten und schließlich... waren sie da! Jetzt mussten wir nur noch unseren Eltern beibringen, dass wir alleine nach London fahren, dort zweimal übernachten und die Konzerte in der Wembley-Arena anschauen wollten!
Wir machten uns auf zu einem kleinen Bed&Breakfast in der Nähe von Wembley. Auf der Fahrt passierte nichts, aber wir waren sehr aufgekratzt und nervös vor lauter Vorfreude. Wir kamen sehr früh an der Arena an und ein riesiger, 10 Meter hoher Ian Anderson (inklusive Mantel und Schamkapsel ["Eierschutz" auf gut Deutsch - Anm. des Übersetzers]) ragte über den Eingangsbereich. Wir traten in die riesige Arena und suchten unsere Plätze. Gute Nachrichten: Wir waren in Reihe 6 auf dem Parkett mit einer tollen Sicht auf die Bühne... aber alles, was bis dato zu sehen war, war ein Sicherheitsvorhang.
Wir zogen die Konzertprogramme heraus (die weitere 50 Cent gekostet hatten) und lasen sie pflichtbewusst von vorne bis hinten durch. Robin Trower bestritt das Vorprogramm (ich hatte noch nie von ihm gehört). Die Artikel und Photos waren klasse. Die Spannung stieg... Niemand hatte bisher das neue Album gehört. Wie würde es wohl sein? Alles, woran wir uns orientieren konnten, waren die großartigen Vorgängeralben. Robin Trower war dran und schon wieder vorbei, ich erinnere mich nur noch verschwommen daran, dass er wohl grob hendrixmäßig, aber gar nicht schlecht war.
Wir warteten... Dann ging der Vorhang hoch und enthüllte eine große Leinwand über der Bühne, auf der ein kleiner Punkt pulsierte, während über die Anlage eine Art "Herzschlag"-Sound gespielt wurde (im Nachhinein vertraut als der Beginn des Albums). Wir machten uns bereit... warteten... warteten... 20 Minuten... immer noch nichts... weißer Punkt... pulsiert... nichts. Der Vorhang neben der Bühne flattert, jemand geht den Mittelgang entlang, nur drei Sitze von uns entfernt, in Richtung Mischpult am Ende der Halle. Es war Ian! Wir sprachen darüber, stritten, nötigten, schoben... Kurz gesagt: Einer von uns versuchte allen Mut zusammenzunehmen, um Ian anzusprechen, wenn er den unvermeidlichen Weg zurück zur Bühne machen würde. Am Ende waren wir doch zu schlappschwänzig, um irgendwas zu unternehmen, und standen regungslos da, als Ian zurückging und wieder verschwand.
Die Projektion flackerte und zeigte eine Ballerina, die auf dem Boden lag. Sie stand auf, tanzte und drehte sich, während der "Herzschlag" Halbton für Halbton nach oben kletterte. Sie begann zu laufen und ein Alt-Saxophon-Arpeggio brach aus... Sie lief einen Flur entlang auf einen Spiegel zu. Sie sprang und brach durch den Spiegel... Splitter flogen durch die Gegend, während die Band zu Pyrotechnik-Blitzen hinter ihren Verstärkertürmen hervorsprang und direkt mit dem Anfang von "A Passion Play" loslegte. Ian erschien an der rechten Bühnenseite, während sein Sopransax immer noch die eröffnenden Refrain-Melodien plärrte.
Ich saß den kompletten Auftritt über mit offenem Mund da, meine Augen starr und mein Kinn am Boden. Dies war das superbste Spektakel, das ich jemals gesehen hatte. Wir waren im Passionsspiel. Zur Hälfte des Stücks tauchte die Leinwand wieder auf und "The Hare Who Lost His Spectacles" wurde auf das ahnungslose und verwirrte Publikum losgelassen. Wir hatten keine Ahnung, was das sollte, aber wen interessiert´s? Ian Anderson kam wieder raus... "we sleep by the ever bright hole in the door..." Und die Band spielte klasse, es gab ein Schlagzeug-Solo, ein Flötensolo, ein Klaviersolo, ein Gitarrensolo... und ein herumlaufendes Kaninchen. Nach der Uraufführung des neuen Werks gab es ein wenig "Thick As A Brick", "Aqualung", "Locomotive Breath" und "Wind-up", in das Teile von "Audition" (später ein Stück auf "Nightcap") eingebaut wurden.
Die Show war viel zu schnell vorbei, und wir (gleichzeitig betäubt und aufgekratzt) standen schon auf... Doch plötzlich begann ein Telefon zu klingen, das schon die ganze Zeit auf einem Hocker an der Seite der Bühne gestanden hatte. Wir drehten uns um... und verharrten regungslos. Der hintere Bühnenvorhang bewegte sich, Ian kam hervor, Jacke über die Schulter gelegt. Er ging zum Telefon, nahm ab, nickte, hielt es in Richtung des Publikums und sagte ins Mikro: "Es ist für Euch". Die komplette Arena explodierte mit Applaus und Liebe für eine Band, die mehr als zwei Stunden lang alles mit Musik und Bild für uns gegeben hatte.
Wir verließen die Arena und gingen zu unserer Unterkunft. In unserem Zimmer, immer noch hin und weg, lachten wir und unterhielten uns über die Show bis tief in die Nacht, bis einer meiner Kumpels einen Asthma-Anfall bekam! Uns verging das Lachen, bis er sich wieder gefangen hatte (...sehr ernüchternd!).
Am nächsten Abend waren unsere Plätze sehr weit oben im Rang ("halbwegs zu Gott"), und die Show, obschon wieder hervorragend, hatte so weit von der Action unten nicht die gleiche Wirkung auf uns.
Zurück in Yorkshire ein paar Tage später warteten wir nervös auf die Rezensionen zur Show.
Rückschlag:
1973 war das Jahr der Kritiker-Machete.
Ich erinnere mich speziell an dieses Jahr dafür, wie die Alben, die ich liebte, von der Musikpresse niedergemacht wurden. "Step up, step up and take a swing, hit the band, knock them off their perches..." Heutzutage mag mancher behaupten, dass die Bands bekamen, was sie verdienten, dass sie maßlos und anachronistisch waren. Ich sehe es allerdings anders. Ich erinnere mich daran, dass ich von dem, was ich lesen musste, schwer geschockt und verärgert war. Ich war bei der Show... Es war magisch... Wie konnte man das bloß als langweiliges Gepose beschreiben?
Auch zur gleichen Zeit im Kreuzfeuer, um nur ein paar zu nennen:
• ELP - Brain Salad Surgery
• Yes - Tales From Topographic Oceans
• Led Zeppelin - Houses Of The Holy
Innerlich forderten wir die Kritiker heraus. Wenn nur das Album veröffentlicht und in unseren Händen sein würde, würden sie ihren schrecklichen Fehler einsehen und beschämt sein... Aber NEIN! Die Rezensionen der LP waren noch schlechter als die der Live-Show. Es scheint, der Wurm "Rock-Presse" hatte sich genau in dem Moment weggekrümmt, als wir ihn wieder unter seinen Stein packen wollten.
Jethro Tull, obschon immer brillant, haben sich von diesem Schlag nie erholt, und tauchten unter lauten Publicity-Fehlern wie anzukündigen, dass man nie wieder touren würde, für eine Weile ab, bevor sie 1974 mit dem "Warchild"-Album wieder auftauchten. Dieses war zwar ebenfalls klasse, aber viel eher eine statisch-lineare Song-Geschichte. Damals dachte ich auch, dass die Produktion schwachbrüstig war... Als ob jemand die Luft aus der Band gelassen hätte und sie Musik-nach-Zahlen machten anstatt mit Herzblut.
Die "Passion Play"-LP:
Das Vinyl-Album erschien im Juli 1973. Wir stahlen uns aus der Schule, um in die Stadt zu gehen und uns in die Schlange stellen zu können, um eine Ausgabe zu kaufen. Vorne und hinten auf dem Klappcover war die Ballerina, die wir von der Leinwand schon kannten, innen eine Art Theater-Programm-Booklet der "Linwell Players Theatre Company". Selbst diese Umschlaggestaltung gab wenig Hinweise darauf, worum es in dem Album eigentlich ging.
An diesem Abend spielte ich es zum ersten von tausenden Malen, und es ist seitdem immer wieder gelaufen.
Seither glaube ich, dass es in "A Passion Play" vorrangig um die Abzweigungen geht, die es gibt, wenn wir sterben. Wir landen im Fegefeuer und warten, während wir abgearbeitet werden, wir könnten im Himmel landen oder in der Hölle, aber schließlich ist beides unbefriedigend, also werden wir einfach wiedergeboren, und das ganze Passionsspiel beginnt von neuem.
Resümee:
Dieses wird weithin als Jethros Tulls "schwieriges" Album betrachtet und scheint die Fans in die Lager "lieben" und "hassen" zu teilen. Einige finden es schwer anzuhören, aber eigentlich finde ich es in dieser Hinsicht weniger problematisch als etwa "Rock Island" (das ich persönlich besonders "schwierig" finde, eben weil es weit weniger gut als APP ist - was Kreativität, textlichen Inhalt, Melodie, Arrangement, Risikobereitschaft, Vision etc. angeht. Ich kann Rock Island nicht anhören, ohne es ausmachen zu wollen - sorry, Ian!)
Die "Probleme" von "A Passion Play" sind zweierlei:
Erstens haben es nicht viele Bands in jener Zeit geschafft, ein Album mit jeweils einem durchgängigen Stück zu produzieren, dass es wert war, angehört zu werden - und hier war eine Band, die das gleich zweimal hinter einander gemacht hatte! "Thick as a brick" wurde eher als selbstironisch, humoristisch angesehen (und auch so vorgestellt), eine schrullige englische Satire, wenn man so will. Von "A Passion Play" konnte das niemand behaupten. Damit musste man sich intensiv beschäftigen, um überhaupt "dahinter zu kommen".
Zweitens, wie schon beschrieben, war dies eines der Alben, an denen sich die kritische Meinung drehte. Bis dahin waren die Rezensenten in den seltenen Fällen, in denen sie das neue Album eines Künstlers verdammten, trotzdem eher höflich gewesen, hier und danach aber nicht mehr. Ursprünglich war es Unbehagen gewesen, das anlässlich der Wembley-Gigs ausgedrückt wurde, dann, als das Album veröffentlicht wurde, war plötzlich die Hölle los. Ob die Musikpresse es auf Ian Anderson wegen anderer Gründe als der Musik abgesehen hatte, ist schwer zu sagen, aber die Band bekam jedenfalls eine noch nie dagewesene Abreibung. Dies hatte zur Folge - ungerechtfertigt, denke ich -, dass davon Jethro Tulls ganze Karriere überschattet wurde, was verhinderte, dass sie je den Platz in der Rock-Hierarchie einnehmen konnten, der ihnen zugestanden hätte. Im Zuge des Nostalgiebooms schwärmen die Medien immer und immer wieder von den Stones, Zeppelin, Floyd. Sie alle wurden im Laufe der Zeit neu bewertet, aber Jethro Tull - leider - nicht. Und dies wegen eines bemerkenswerten Albums.
Ich kehre oft zu "A Passion Play" zurück, und es wäre sicherlich Teil meiner "Einsame Insel"-Auswahl. Die späteren Veröffentlichungen der "Nightcap"-Sessions und die DVD-Version des "Hare"-Films haben es mir nur noch stärker ans Herz wachsen lassen.
"A Passion Play" ist ein wunderbares Zeugnis einer Band, die es wagte hoch zu fliegen, nur um von anderen abgeschossen zu werden, die auf ihren Schultern stehen müssen, um überhaupt gesehen und gehört zu werden.
"
Sieben Jahre BBS"