Kurzgeschichte - Inspririert durch "Fly from here"

veröffentlicht: 22.06.2011

Benoit David ; Geoff Downes ; Steve Howe ; Chris Squire ; Alan White
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Aprilfrost
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Kurzgeschichte - Inspririert durch "Fly from here"

Beitrag von Aprilfrost »

I.
Der Mann der sich im leichten Kashmirmantel dem Flugplatz genähert hatte, blieb am Zaun stehen, die Finger locker in den Maschendraht gekrallt, und sah nachdenklich zum Rollfeld hinüber. In der hellen Nacht waren die Propellermaschinen deutlich zu erkennen. Ein, vielleicht noch zwei Tage, und der Mond würde voll sein, doch der Mann wollte nicht mehr warten. Es war hell genug an diesem 1. Juli. Außerdem brauchte er nicht viel Licht. Seit seiner Zeit im Keller – im Verließ, wie er es nannte – waren seine Augen lichtempfindlich geworden. Helligkeit konnte er nur eine Zeit lang ertragen, deshalb hatte er die dunkle Sonnenbrille immer dabei. Er wollte, er konnte nicht mehr warten. Jeder weitere Tag, an dem er zögerte, wäre verschwendet gewesen.

Während er zu den Maschinen hinüber blickte, nahmen die Erinnerungen wieder Gestalt an. So vieles war geschehen, seit man ihn auf der Landstraße unweit der Stadt aufgelesen und in dieses streng geometrische Gebäude gebracht hatte, das er sehr lange nicht mehr verlassen sollte. Wie lange? Er wusste es nicht mehr. Sie hatten ihn in ein kleines Zimmer geführt, in dem die Luft abgestanden roch und das Tageslicht durch schmutzige Scheiben fiel. Auf die Frage nach seinem Namen hatte er wahrheitsgemäß geantwortet: „Lear.“ Ob dies sein Vorname oder Nachname sei. Er verstand die Frage nicht. Er hieß Lear. Er war Lear. Sie wiederholten die Frage, wieder und wieder, bis er so eingeschüchtert war, dass er nicht mehr antwortete. Sie waren nicht unfreundlich zu ihm, nicht freundlich. Sie wollten Antworten von ihm. Er verstand nicht einmal alle ihre Fragen. Ob er zu „denen“ gehörte? Er versuchte sich zu erinnern. Er konnte nicht sagen, zu wem er gehörte. Erst wenige Tage zuvor hatte er Julia in seiner Heimat zurück lassen müssen. Aber er erwähnte Julia nicht, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Dann brachte ihn ein sehr junger Mann die Treppen hinunter, viele Treppen. Vor ihm lag ein langer, spärlich beleuchteter Gang, der sich in einiger Entfernung in einer Kurve verlor. Angst spürte er nicht, höchstens etwas Neugier. Aber eigentlich war ihm egal, wo er sich befand. Ändern konnte er im Moment nichts, und er war auch zu erschöpft, um sich für seine Umgebung zu interessieren.

Nach zehn Metern zweigte ein weiterer dunkler Gang rechts vom Hauptgang ab. Die Tür in einer Nische war eher zu ahnen als zu sehen. Diese Tür öffnete der junge Kerl und blieb daneben stehen. Unnötig zu sagen, dass Lear eintreten sollte. Kaum hatte er die Schwelle überschritten und seinen Blick über die Einrichtung wandern lassen, schloss sich die Tür, und er war allein. Das Zimmer war geräumig und wohnlich eingerichtet: zwei Sessel, ein Tisch, Bücherregale an den Wänden, eine kleine Einbauküche, sogar eine Kaffemaschine stand auf einer Kommode. Ein Vorhang verbarg ein Bett und eine weitere Tür führte zur Toilette. Lear setzte sich aufs Bett und blieb unbeweglich sitzen. Irgendwann wurde das Licht schwächer, bis totale Finsternis herrschte.

Als er erwachte, wusste er nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er wartete, doch niemand erschien. Er verlor das Zeitgefühl. Hin und wieder wurde ihm etwas schwaches Licht gegönnt, doch er konnte keinen Rhythmus darin erkennen. Schnell stellte er fest, dass immer genügend Nahrung in der Küche für ihn stand. Nie sah er jemanden kommen, niemand sprach mit ihm. Alles was er hörte, waren die Geräusche, die er selbst verursachte. Wie lange er im Verließ gewesen war, konnte er später nicht angeben. Ohne Uhr, ohne Kalender, ohne Tageslicht hatte er keine zeitliche Orientierung.
Er hatte sich damit arrangiert, sich ohne Licht in seinem kleinen Lebensraum zurecht zu finden. Er schlief, wenn er müde war, aß, wenn er hungrig war und versuchte sich mit Liegestützen und dem Heben schwerer Gegenstände fit zu halten. Er hatte sich so an dieses Leben gewöhnt, dass er überrascht war, als eines Tages kein Essen und kein Trinken mehr für ihn bereit stand. Erst als der Hunger nicht mehr zu ignorieren war, begann er seine Umgebung nach langer Zeit wieder gründlich zu untersuchen. Er klopfte die Wände ab, und anders als früher klang die Rückwand seiner Einbauküche lauter und hohl.

Seine Flucht durch den Versorgungstunnel, durch den die Lebensmittel zu gebracht worden waren, wurde nicht behindert und wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. Über eine enge Treppe erreichte Lear einen Raum, durch dessen Fenster schwaches Licht fiel. Er war wieder über der Erde. Erstaunt stellte er fest, dass er keine Erleichterung spürte, keine Freude, nur ein Gefühl, das er erst später als Sehnsucht deuten konnte. Menschen sah er keine, nicht im Gebäude, nicht auf dem Vorplatz, nicht auf den Straßen. Die Stadt war verlassen. Nur der Wind strich um Gebäudeecken und verbreitete die Illusion von etwas Lebendigem.

Lear hatte sich in einem der vielen Geschäfte neu eingekleidet, Lebensmittel gefunden und überrascht festgestellt, dass die Elektrizität noch funktionierte. Auf seinen Streifzügen begegnete er keiner Menschenseele, nur ein paar streunenden Hunden und Katzen, die in umgekippten Mülltonnen nach verwertbaren Resten stöberten. Er musste fort von hier, raus aus dieser Geisterstadt, raus aus diesem Talkessel, der ihm wie das Tal der Verdammnis vorkam. Sehnsüchtig sah er den Vögeln nach, die ungehindert in alle Himmelsrichtungen flogen. Fliegen können. Irgendwohin, wo er wieder zu leben anfangen könnte. Fliegen. Weg von hier.

II.
Lear hatte noch kein Ziel und keinen Plan, nur diesen unbändigen Wunsch seine Lage zu ändern. In einer Tankstelle suchte er nach Straßenkarten und wurde fündig. Er befand sich in der einzigen Stadt eines Tales, das sonst nur von Dörfern besiedelt war. Es gab nur zwei Zugänge von außen, einen im Süden, der andere lag im Nordosten. Lear betankte ein Auto und fuhr anhand der Karten zuerst Richtung Süden. Die Straße zum Pass endete unter einem Trümmerhaufen von Felsen, die offensichtlich gesprengt worden waren. Lear machte sich nicht die Mühe, über den Grund dieser Aktion nachzudenken. Am nächsten Tag wählte er die nordöstliche Route. Hier war es genauso. Es gab keine Möglichkeit auf diesem Weg das Tal zu verlassen. Es blieb nur der Luftweg.
Der kleine Flughafen war auf der Karte nicht zu übersehen. Lear würde versuchen ein Flugzeug zu starten um über die Berge zu entkommen. Die Hoffnung auf Hilfe hatte er längst aufgegeben. Er selbst musste handeln. Am Abend dieses 1. Julis bestieg er wieder ein Auto und fuhr zum abseits gelegenen Flugplatz. Dabei hatte er nicht auf die Tankanzeige gesehen und seufzte, als der Wagen ausrollte und mitten auf der Straße stehen blieb. Ohne zu zögern stieg Lear aus, nahm seinen Mantel vom Rücksitz und wanderte ein Stück die Straße entlang. Er wusste, dass die Zufahrt zum Flughafen auf der anderen Seite des Rollfeldes lag, daher verließ er die Straße und kürzte die restlichen Kilometer über die Felder ab. Nun stand er am Zaun und überlegte, wie es weiter gehen sollte. Den Mantel hatte er angezogen, denn trotz des Sommers, waren die Nächte hier im Freien überraschend kalt. Im fahlen Mondlicht machte er in einiger Entfernung mehrere Flugzeuge aus, die wie schlafende Insekten unbeweglich da standen. Aus er Ferne erkannte er eine Cessna 272, eine alte Piaggo P149, liebevoll Piggi genannt und neben einer kleinen Do-27 auch eine Edgewing 25-5-19. Nachdem er den Zaun überwunden hatte, näherte er sich den Propellermaschinen. Einige waren so alt, dass ihre Höhenmesser schon lange auf null stehen mussten. Die Edgewing schien allerdings vor nicht allzu langer Zeit noch in Gebrauch gewesen zu sein. Lear schaute sich suchend um, als erwartete er, dass ihm jemand etwas über die Maschinen sagen könnte. Sein Blick ging hinüber zu dem flachen Gebäude, in dem einst das Bodenpersonal seinen Aufgaben nachgekommen sein musste. Es irritierte ihn nicht, dass durch einige Fenster Licht auf den kümmerlichen Rasen fiel. Gemessenen Schritts ging er hinüber und öffnete die Tür. Er war versucht „hallo“ zu rufen, als sich die Tür mit einem dumpfen Geräusch hinter ihm schloss. Die Stille, die ihn umgab, war bedrückend. Am liebsten hätte er einen Motor angeworfen, nur um nicht diesem großen Schweigen ausgeliefert zu sein. Freudlos ging er von Raum zu Raum. Kein Mensch saß vor den Monitoren, von denen einige ein bläulich-grünliches Licht verbreiteten. Für einen Augenblick schloss Lear die Augen und erinnerte sich an die Zeit – wie lange war das her – als er selbst den Radar beobachtet hatte. Neben ihm hatte Julia gesessen; Julia, die jetzt vielleicht irgendwo auf ihn wartete. Oder hatte sie das Warten bereits aufgegeben? Nein, das sähe ihr nicht ähnlich. Heimlich hatte er sogar gehofft, sie würde ihn suchen und eines Nachts genau hier auf diesem Flugplatz landen. Gemeinsam würden sie auf die Morgendämmerung warten – aber nein, getrennt sahen sie, jeder für sich, dem Morgen entgegen. Lear begriff, dass er selbst handeln musste, wenn er je wieder mit Julia vereint sein wollte. Er wünschte sich, sie zu beschützen und sie niemals wieder zu verlassen.
Als er die Augen wieder öffnete, atmete er tief ein und ging entschlossen den Korridor entlang zum Ausgang. Dort wandte er sich noch einmal um, aber nur die Geister einer Vergangenheit, die nicht die seine war, drückten sich verstohlen dort herum. Er musste die Vergangenheit abschütteln und wieder lernen zu leben.

III.
Es war leichter als er erwartet hatte, die Edgewing zu starten und zu fliegen. Der Tank war gefüllt, so dass die Maschine ihn mindestens 2000 Kilometer weit bringen würde. Lear wusste nicht, was ihn außerhalb des Tals erwarten würde. Am Himmel hatte er seit seinem Entkommen aus dem Verließ keine Flugzeuge gesehen und auch keine gehört. Eine Kollision in der Luft war also unwahrscheinlich. Wo würde er landen können? Wo würde man ihn aufnehmen? Während er eine zerklüftete Landschaft überflog, knarzte es im Lautsprecher der Pilotenkanzel. Lear griff sofort nach den Kopfhörern. Was er hörte, waren Stimmen, mehrere Stimmen durcheinander. Er meldete sich mit seiner Position. Nun bekam er widersprüchliche Anweisungen: „Geben Sie den Luftraum frei!“ „Landeerlaubnis erteilt.“ „Gehen Sie auf 9000 Fuß.“ „Fliegen Sie eine weiträumige Schleife!“ Er bat um eindeutige Anweisungen, aber das Durcheinander endete nicht. Sitzen denn da Verrückte an den Monitoren, fragte er sich. Eine Landung in dieser Gegend kam für ihn nicht infrage. Er zog die Stirn kraus, als nicht weit entfernt eine Wolkenwand sich auftürmte. Das würde jetzt unruhig werden. Julia, dachte er, während er die Maschine in den Sturm hinein steuerte, lass uns weg fliegen. Ich werde dich finden, irgendwo an einem fernen Ufer, wo du auf mich wartest. Und dann fliegen wir weg. Ja, wir können fliegen. Weit fort.
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Re: Kurzgeschichte - Inspririert durch "Fly from here"

Beitrag von SOON »

hattest Du das nicht schon mal eingestellt?
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Aprilfrost
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Re: Kurzgeschichte - Inspririert durch "Fly from here"

Beitrag von Aprilfrost »

SOON hat geschrieben:hattest Du das nicht schon mal eingestellt?
Ja, in meinen Privat-Bereich. Aber eigentlich gehört das hierhin. Daher habe ich es verschoben.
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