Ja es stimmt, Anderson hat ein neues Album veröffentlicht … und begeht in diesem Monat seinen 80. Geburtstag.
Aber lasst mich ganz vorn beginnen.
Im Vorfeld der Albumveröffentlichung wurde zuerst ein Foto von Jon durchs Netz geschickt. Selbiges hielt ich für ein reines Promo-Foto. Ganz schnell stellte sich heraus – das ist das Cover.

Für einen altbackenen Yes-Fan wie mich natürlich ein Affront. Ich höre doch gerne Jons Stimme am liebsten, wenn ich in Gedanken durch Landschaften, bevorzugt meine eigenen oder die eines Roger Dean, durchfliege.
Nun also sollte ich mich auf ein Album eines gealterten Rockers, der gerne ein Pop-Star sein will und dann selbst auf der Front-Seite des Albums prangt, freuen?
Dann schwante es mir schon wer dafür verantwortlich, also schuldig ist: Debs!
Als ich das Cover später endlich in den Händen hielt, ging mein erster Blick auf die Liner-Notes und mein Verdacht hat sich bestätigt. Debs ist „schuld“. Debs ist der Kosename von Jons ältester Tochter Deborah Anderson .
Nun könnte man vermuten Jon möchte seine Tochter im Business etablieren, hat sie nicht nötig. Sie ist u.a. eine Vertraute von P!nk, der bekannten Pop-Sängerin, die auch schauspielert und seit Jahren erfolgreich ist. Deborah wird oft von der Sängerin für Fotos engagiert und ist eine etablierte Fotografin. Mit einem Prominenten Vater ist sie auch mit den Wünschen und der Einhaltung von Privatsphären vertraut.
So muss ich das Cover aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten, aus dem der Tochter des Sängers, die ihren Vater mit ganz eigenen Augen sieht…
In den letzten Jahren ist Jon enger mit seinen Kindern zusammen gewachsen, besonders mit Debs. Somit hab ich mit dem Cover meinen Frieden gemacht und kann das gut verstehen.
Nachdem ich mit Jons ersten Alben „aufgewachsen“ (bis Ende der 80er) bin, dann mit den 90-Alben eher „gefremdelt“ habe, habe ich seine Alben ab 2010 wieder in mein Herz geschlossen. „Survival and other Sories“ und „Living Tree“ wecken schöne Erinnerungen an Trips zu Konzerten 2009 nach Bratislava und London 2010. Auch „Better Late Than Never“ mit Ponty (2015) und „Invention of Knowledge“ ein Jahr später mit Roine Stolt bis zu „1000 Hands: Chapter One“ in 2019 gefallen mir auch jetzt noch gut und schaffen es regelmäßig auf den Plattenteller. .
Seit ein paar Jahren kamen ständig Ankündigungen, nun ist es endlich soweit, ein neues Werk ist da!
Neun Songs haben es auf das Album geschafft. Die Songs stammen aus verschiedenen Zusammenarbeiten mit Jon und anderen Künstlern, die zum Teil sehr weit zurück reichen. Mein Lieblingssänger hat oft in Interviews ab gewunken, wenn er nach Deadlines gefragt wurde. Mit diesem Album war alles ganz anders, er wollte es unbedingt machen. In den Visionen der Fans nach einem umfassenden, abschließenden YES-Album hätten sich alle Mitglieder nochmals gefunden. So war es auch Jons Traum, den er sogar noch zu Lebzeiten von Chris Squire einbrachte, später dann für das Trio mit Rabin und Wakeman erhoffte. Letztlich dann 2019 noch ein Angebot an Steve Howe, fünf Songs wären dafür schon fertig. Leider kam es nicht zustande aus diversen Gründen, vornehmlich Eitelkeiten, private Differenzen, Krankheiten und andere Verpflichtungen/Verträge von denen man nur die Spitze des Eisbergs kennt.
Dann lernte Jon The Band Geeks kennen, die bereits als YES-Cover Band unterwegs war und in den Staaten die Yes-Fans glücklich machte. Die Band aber als reine Cover-Band zu reduzieren wäre falsch. Nach einer erfolgreichen Tour Andersons mit der Band, sah der Sänger in diesen Musikern die richtigen Leute, die seine Ideen für ein Album umsetzen können. Zum Glück wurde es realisiert und hat scheinbar großen Spaß gemacht. Jedenfalls strahlt Jon in allen Interviews , die er dazu gibt.
Das Album kann als eine moderne Retrospektive der YES-Geschichte gesehen werden, bringt aber auch viele neue Facetten zum „YES-Sound“ ein. Auf der ersten Seite der Doppel-LP wird man gleich mit zwei Songs, „True Messenger“ und „Shine On“ mitgerissen, Zeiten in denen YES-Songs kürzer, radiotauglich waren. Die Musiker der Band Geeks haben nicht nur die Songs von YES gespiegelt auf ihren Touren nachgespielt, sondern auch deren DNA verinnerlicht. Da sind gute Musiker am Werk und für Anderson noch ein Bandchef mit Chris Squire Qualitäten: Richie Castellano. Selbiger ist nicht nur ein guter Bassist, bedient auch die Gitarre und Keyboards, besonders bringt er aber auch die bei YES so wichtigen Backing-Vocals, oder wie Anderson sie bezeichnet: Harmonic Vocals ein. Das kommt auf dieser Platte besser als auf „Mirror to the Sky“. Die vielen kleiner Parts, Stimmungen, Facetten, Farben, machen den YES_Sound musikalisch so „reich“.
Darüber und darin schwebt Jons Stimme, die so viele positive Energien sendet, die mir immer mein Leben bereichert haben. Trotzdem ist das nicht überladen, abwechslungsreich und voller Lines, die sich einprägen. Dabei wird eine schöne Spannung aufgebaut, von der man einfach mehr möchte.
Im Unterschied zu Yes gibt es auch viel Rhythmusgitarre von Andy Graziano, die alles ein wenig moderner wirken lässt. Graziano bringt ein breites „Arsenal“ von Gitarren ein, kann wie Howe oder auch Rabin klingen, erinnert mich aber eher an Chris Fey (Magenta) oder Roine Stolt (The Flower Kings). Im Mix ist er aber eher weiter „hinten“ und kann an dann exponierten Stellen im Vordergrund glänzen.
„Shine on“ hat eine Hookline, die live begeistern kann, hätte auch von Rabin komponiert sein können. Freunde der 80er werden hier auf ihre Kosten kommen.
Auf Seite B kommt nun das erste Highlight, das auch in der Union-Besetzung hätte eingespielt sein können. Akustische Gitarren, Hammond-Sounds, aufschreiende E-Gitarren, Piano, breite Synthi-Sounds in wechselnden Stimmungen aber immer mit rotem Faden – Jons Stimme und einem Rickenbaker-Basssound im Stile Chris Squires. „Countries and Countries“ kommt dann mit einem Wakeman-Typischen Keyboardsolo unterstützt von einer excellenten Rhythmusgruppe auf die Ziellinie um dann in einem Piano-Outro zu enden. Grandios, kann gut mit den Werken der frühen Jahre mithalten. Auch ist hier Anderson als einziger Komponist verzeichnet. Ein Song der wohl auch auf dem „Yes-Abschluss-Album“ gelandet wäre.
Auch in den Texten kann man wieder die typische Anderson-Einstellung vernehmen. Während andere vom „ein guter Tag zum Sterben“, oder „stirb an einem anderen Tag“ singen, singt Anderson von „das ist ein wunderschöner Tag um in Liebe zu sein“.
Carpe Diem!
Es folgt das gemeinsam mit Jimmy Haun komponierte „Built me an Ocean“. Ja selbigen, der wegen seiner Gitarrenparts auf „Union“ von manchem Fan angefeindet wurde. Haun ist ja auch als Gründungsmitglied von Circa (Sherwood, Kaye …) oder Arc of Life (Sherwood, Davison, Schellen …) bekannt. Jon hat über die Jahre immer wieder mit Jimmy gearbeitet und da sind etliche Songs entstanden, auf die Jon nun zurückgegriffen hat. Stimmlich wirkt Jon hier wundervoll zerbrechlich, der Song ist eher pathetischer gehalten, klassische Gitarre und Piano und im Hintergrund ein schöner Chor, runden alles sehr schön ab. Wer Jons „Survival and other Stories“ mag, wie ich, kommt hier auf seine Kosten.
Seite C beginnt dann mit „Still a friend“ einer Gemeinschaftskomposition neueren Datums, an der auch Richie Castellano, Andy Ascoless (Drums, Percussion, Keyboards, Vocals) und Christopher Clarke (Keyboards) mitgewirkt haben. Die Keyboards erinnern hier an Igor K. so wie der Aufbau und das Feeling der Songs von „The Ladder“ . Textlich wendet sich Jon an seine ehemaligen Mitstreiter, die nicht über ihren Schatten springen können oder wollen, für Jon aber immer noch Freunde sind. Wen er direkt meint, kann man an den Parallelen nachvollziehen, wenn die Geeks-Mitglieder Jons alte Weggefährten musikalisch „zitieren“.
Mit „Make it right“ greift Jon wieder auf einen Song aus seinem Fundus zurück. Hier kann man eine Komposition mit Jonathan Elias hören, die um Ideen Richie Castellanos erweitert wurde. Elias ist den Yes-Fans schon seit seinen Beiträgen zu Union bekannt. Selbst ist er aber eher mit Vangelis zu vergleichen, also auch der Filmkomponist. Sein Interview über die Union-Zeit macht leider derzeit wieder die Runde in den Netzwerken. Jon konnte man über die Jahre als Gastsänger auf Elias‘ Werken finden.
Der Song beginnt mit der klassischen, also nylonbestückten Gitarre, erinnert stark an Howe. Ein Akkordeon-Klang lässt den Hörer später auf eine Schiffsreise gehen. In der „Ferne“ erklingt ein Gospel-Chor, es setzen stimmgewaltige Gitarren, Orgeln und Rhythmen ein. Für mich eine Rückschau auf Jons eigenes Leben, der Fluss der immer noch fließt. Auch endet der Song nicht wirklich, setzt keinen Punkt, der letzte Takt fehlt. Es geht schnell über in „Realization Part Two“. Ein Zeichen auf das was noch kommt … (?!)
Letztgenannter Song stammt wieder aus der Zusammenarbeit mit Jimmy Haun und versetzt den Hörer in die Zeiten seiner Solo-Alben der Endneunziger, als er sich eher anderen Stilarten zugewandt hat. Der Fluss mündet im Meer, am Ufer hört man karibische Rhythmen, „afrikanischen“ Gesang mit Urlaubsfeeling und Tanz. Ein wenig das von manchen gehasste, von mir geliebte „Teakbois“ vom ABWH Album mit einem Schuss Melancholie.
ABWH ist das Stichwort für die letzte Seite: D
Der Longtrack „Once upon a Dream“ folgt. Dessen Dramaturgie erinnert anfangs an “State of Independence“ und mit einer „Awaken-Länge“ schraubt das vorletzte Stück des Albums schon die Erwartungen recht hoch. Mit der nötigen Intensität von Alben wie „Going for the One“ und „ABWH“ wartet Jon & Geeks auch hier auf. Der Bass erinnert dabei eher an Tony Levin, nimmt die Rhythmusgitarre direkt auf in einen markanten Lauf, kann mich begeistern.Darüber dann die nicht enden wollenden Fanfaren, herrlich. Im ruhigerem Mittelteil, dann keine Harfe, sondern Chöre die Jons Stimme einbetten. In klassischer Manier werden hier die Instrumente verwoben bilden Weite und Raum, bauen Landschaften auf. Ein Sonnenuntergang ala „Soon“ wandelt sich in eine zerbrechliche Stimmung, wandelt sich je durch das durchbrechende Schlagzeug. Hier in diesem Werk wird alles bedient, mit dem Yes die anspruchsvolle Musik der 70er neu erfunden hat. Kirchenorgel, Counterparts, ein hoher Spannungsbogen und die darüber schwebende Knabenstimme. Die Orchestersounds duellieren sich mit den elektrischen Gitarren, der Satzgesang und die Rhythmusgruppe tun ein gleiches bis zum fulminanten Ende. Wow, sowas habe ich mir erträumt, aber kaum erwartet. Mit jedem Hördurchgang kann man neue Facetten finden, spannend den einzelnen Instrumenten zu lauschen.
„Thank God“ ist dann der Abschluss in Dankbarkeit, Demut, Güte und Liebe. Nicht weniger majestätisch als der vorangegangene Longtrack, aber nicht so opulent instrumentiert.
Ein Album das rund ist und auch den Vergleich mit „Olias“ nicht scheuen braucht.
Der Mix hätte etwas differenzierter sein können, externe Produzenten waren für das Projekt wohl zu teuer oder nicht verfügbar. Auch möchte Jon die Herrschaft behalten und ein überschaubares Team um sich zu scharen.
Einen Plattendeal mit „Frontiers“ hätte ich nicht erwartet, nachdem „Heaven and Earth“ und die zwei Arc of Live Platten dort nicht den erwarteten Erfolg hatten. Bei „True“ hat das Plattenlabel die Verkaufszahlen des Vinyl-Doppelalbums unterschätzt. Mich freut das für Jon und die Band.
Long life Jon Anderson!!!
Jon Anderson and the Band Geeks:
Jon Anderson – lead vocals, harp, production, musical arrangement
Richie Castellano – bass, guitar, keyboards, vocals, production, musical arrangement, engineering, mixing
Andy Ascolese – drums, percussion, keyboards, vocals, associate production, musical arrangement, engineering
Andy Graziano – guitar, vocals
Christopher Clark – keyboards, musical arrangement
Robert Kipp – Hammond organ, vocals
Anne Marie Nacchio – additional vocals
1. "True Messenger" (Jon Anderson, Jamie Dunlap, Richie Castellano) 5:50
2. "Shine On" (Anderson, Castellano) 4:18
3. "Counties and Countries" (Anderson) 9:51
4. "Build Me an Ocean" (Anderson, Jimmy Haun) 3:20
5. "Still a Friend" (Anderson, Castellano, Andy Ascolese, Christopher Clark) 5:02
6. "Make It Right" (Anderson,Jonathan Elias, Castellano) 6:07
7. "Realization Part Two" (Anderson, Haun) 3:33
8. "Once Upon a Dream" (Anderson, Elias, Castellano, Ascolese, Clark) 16:32
9. "Thank God" (Anderson, Robin Crow) 3:49
Total length: 58:22